Zugfahrt in die Vergangenheit

Die kleine Barkasse schippert uns für einen Peso (ca. 2 Eurocent) durch Havannas Hafenbecken nach Casa Blanca. Wir müssen den „Bahnhof“ nicht lange suchen. Vor uns liegt ein zugewachsenes und verbogenes Gleis, das gleichzeitig als Dorfstraße fungiert. Ein Stationsschild und ein kleiner Fahrkartenschalter deuten darauf hin, dass hier tatsächlich Züge verkehren. Wir sind viel zu früh dort, da wir uns vorsichtshalber auf viel Bürokratie und Schlangestehen am Schalter eingestellt haben. Nach einer kleinen Ewigkeit rumpelt gemächlich ein etwa fünfzig Jahre altes Gefährt daher – unsere urige und ganz sicher authentische Reise durch Kuba kann beginnen.
 Kubas einzige elektrische Eisenbahnlinie wurde 1917 vom US-Schokoladenkonzern „Hershey“ gebaut und diente früher vor allem dem Transport von Zuckerrohr. Für die 96 km lange Strecke benötigt der Zug gemäß Fahrplan etwa 4 Stunden. Wir wurden im Vorfeld jedoch darauf hingewiesen, dass Verspätungen eher die Regel als die Ausnahme darstellen… Als wir langsam den krummen Schienenstrang entlang schaukeln, wird klar: diese Bahnfahrt ist eine Reise in die Vergangenheit. Der Fahrtwind weht uns um die Nase und am Fenster zieht eine ländliche Gegend vorbei, wie sie nur die wenigsten Kuba-Touristen zu sehen bekommen. Palmenhaine, Felder und winzige Ortschaften säumen die Strecke. Das saftige Grün unseres Rasengleises stellt eine hervorragende Weide für zahllose Rinder, Ziegen, Pferde und Schafe dar. Regelmäßig ertönt die Pfeife des Zuges um das Vieh von den Gleisen zu scheuchen.

Dann, plötzlich eine starke Bremsung und der Zug bleibt auf freier Strecke stehen. Im Führerstand wird es laut. Lokführer, Schaffner und drei weitere Mitarbeiter (deren Aufgabe an Bord nicht wirklich ersichtlich ist) diskutieren wild gestikulierend die Sachlage. Im Fahrgastraum geht es zu wie in einem Taubenschlag. Die Fahrgäste sind sichtlich über die Zwangspause erheitert und nutzen die Gelegenheit, um genüsslich zu Rauchen und gemeinsam über die Ursache zu rätseln. Als der Lokführer und seine Männer die Sicherheitshandschuhe anlegen und ins Freie klettern, wird klar: hier ist Handarbeit erforderlich. Fünf Männer klettern auf das Dach des Elektrotriebwagens und reparieren mit Draht und Zange die inzwischen geerdete Oberleitung notdürftig. Der Kabelsalat am Oberleitungsmast wird provisorisch fixiert und nach einer halben Stunde kann die Fahrt fortgesetzt werden. Die über uns kreisenden Geier gehen leer aus!
 Im Schneckentempo tuckern wir durch die Provinz. Hier und da stoppt der Zug, um Landarbeiter, Bauern, Händler, Vogelfänger und Marktfrauen nach Hause zu bringen. Im Mehrzweckbereich stapeln sich die Waren. Vom Zuckerrohrsack über Vogelkäfige bis hin zur neuen Doppelbettmatratze ist alles dabei! Da es in dieser Gegend kaum Straßen gibt, ist der Zug oftmals die einzige adäquate Verbindung zur Außenwelt. Die Menschen, die unterwegs aus dem Zug aussteigen, verschwinden entweder zu Fuß auf matschigen Trampelpfaden im Dickicht oder werden mit dem Pferdefuhrwerk bzw. Traktor abgeholt. Von einer Siedlung ist weit und breit keine Spur zu sehen. Mit 30 Minuten Verspätung rollen wir schließlich – für kubanische Verhältnisse nahezu pünktlich – in den Bahnhof von Matanzas ein. Am nächsten Tag fallen alle Züge wegen Oberleitungsstörung ersatzlos aus!

 

Ein Gedanke zu „Zugfahrt in die Vergangenheit

  1. Irmgard, 14 Nov 2011:
    Ich finde es super, dass ihr Land und Leute wirklich sehen und erleben wollt und nicht mit Nobelbussen durch die Gegend fahrt. Aber es ist schon auch einwenig traurig und ungerecht, dass manche Menschen auf der Welt so sehr arm sind.

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